Prof. Dr. med. Dr. phil. Serge Sulz ist Kinder- und Jugendpsychotherapeut, Vizepräsident der deutschen gesellschaft für kinder- und jugendlichenpsychotherapie und familientherapie dgkjf. Er lehrt an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Grundlagen der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie für pädagogische Berufe und ist Autor zahlreicher Bücher. Das kürzlich auf dem Markt erschienene Buch „Schadet die Kinderkrippe meinem Kind?“, von dem er Mitherausgeber ist, erklärt Eltern und ErzieherInnen, worauf sie achten und was sie tun können.

‚Berufung Mami‘ hat Prof. Sulz für ein Interview gewinnen können:

 

Ob die Kinderkrippe schadet wird in Ihrem Buch aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. 20 Fachleute bieten eine Bandbreite an Wissen an. Welche Bereiche werden abgedeckt?

Alle relevanten Aspekte werden beleuchtet: Die Eltern (Zwei-Eltern und Ein-Eltern), die Erzieher, die Träger, die Politik, die Psychologie, die Gehirnforschung, die Kleinkind-Stressforschung, die Vision einer besseren Welt für kleine Kinder.

 

Können Sie näher auf die Herausforderungen von Alleinerziehenden eingehen?

Die Ein-Elternsituation (Alleinerziehende) ist skandalös. Niemand sieht, niemand versteht und niemand greift ein. Es gibt nur Abgabe des Kindes in der Kinderkrippe. Das Kind hat dann nur abends und nachts Eltern, tags ist es wie ein Intervall-Waise. Oder Hartz IV. Eltern, die sich für Hartz IV entscheiden, gebührt größter Respekt. Allerdings können sie allein mit Respekt nichts anfangen. Sie brauchen das bedingungslose Grundgehalt in Höhe von 1500 Euro netto (siehe Richard David Precht), und sie brauchen Menschen, die mit ihnen eine Gemeinschaft bilden, in der ihr Kind immer wieder ihm vertraute Bindungspersonen findet. Und sie brauchen eine Politik, die ihr Leid nicht nur dazu nutzt, um sich gegen den politischen Gegner zu profilieren.

 

Was können wir uns unter der Kinderkrippen-Ampel vorstellen?

Das ist ein Online-Portal, mit dem eine Kinderkrippe anhand der wichtigen Qualitätskriterien geprüft werden kann. Eltern können damit feststellen, ob ihr Kind dort gut aufgehoben ist.

Das könnte die Grundlage eines TÜVs für Kinderkrippen sein oder ein Test analog den Tests der Stiftung Warentest. Allerdings mit wirklich relevanten Kriterien und wirklich vollständigen Kriterien. Eltern können online eine Kinderkrippe, die sie besucht und besichtigt haben, bewerten und für jedes Kriterium einen grünen (gut), gelben (bedenklich) oder roten (schädlich) Punkt vergeben. Zum Schluss erhalten sie das Ergebnis.

Sie können sehen, wie viele rote, gelbe und grüne Punkte die Kinderkrippe bekommen hat. Meist ist die Empfehlung weiterzusuchen, bis eine gute Kinderkrippe gefunden wurde. Durch das Ankreuzen bekommen die Eltern ein Gefühl dafür, was wichtig oder unverzichtbar ist und sind nach wenigen Kinderkrippen-Ampel-Bewertungen in der Lage, sich ein sichereres Urteil zu bilden, aber auch immer konkreter beim Krippenpersonal nachzufragen, wie es mit den einzelnen Qualitätskriterien in der Krippe aussieht. Zum Schluss können sie – wenn sie wollen, uns das Ergebnis weitergeben, so dass wir es anderen Eltern zur Verfügung stellen können. Das hat sicher eine Wirkung. Denn Krippen wollen bessere Bewertungen bekommen und strengen sich dafür an. Auch deshalb laden wir Eltern zum Benutzen der Kinderkrippen-Ampel ein.

 

Wie viele gute Kinderkrippen gibt es in Deutschland tatsächlich, so dass die Kinderkrippen-Ampel auf „grün“ steht?

Es ist sicher nicht mehr als 1 Promille, d. h. eine von tausend Krippen erhalten das Gütesiegel GRÜN (= sehr gut). Aber es gibt auch noch nicht viele ausreichende Krippen (GELB). Das sind etwa 1 Prozent. D.h. wir können Eltern nur bei einer von hundert Krippen derzeit raten, ihr Kind dort anzumelden. Leider sind die Rot-Punkte so bedeutsam, dass wir von jeder Krippe abraten (nicht ausreichend), die zwei bis drei ROT-Punkte bekommen hat.

 

Können Sie ein paar Tipps an Eltern weitergeben, die gerne ihre Kinder selbst betreuen würden, aber nicht auf ein Gehalt verzichten können?

Es stellt sich die Frage nach einem Kredit. Denn für viele Konsumgüter werden ganz schnell Kredite aufgenommen, auch für Autos und natürlich für Eigentumswohnungen. Wir könnten da den Gegenwert eines Kindes mit einem guten Auto oder mit einer Eigentumswohnung betrachten. Warum also kein Kredit? Den können bei nicht wenigen Eltern die Großeltern geben. Sie wohnen ja heutzutage leider nicht mehr so nah, dass sie das Kind tagsüber nehmen können. Oder sie sind noch berufstätig, so dass es deshalb nicht geht. Zum Ausgleich dafür können sie durch einen Großeltern-Kredit dazu beitragen.

Und noch etwas: Es gibt Existenzgründungsdarlehen in Höhe von 50.000 Euro mit günstigen Zinsen und langfristiger Tilgung. Weshalb gibt es kein Familiengründungsdarlehen? Dies muss von der Politik gefordert werden!

 

Hat die Entscheidung, ein Buch über dieses brisante Thema zu schreiben, etwas mit Ihrer Arbeit als Kinder- und Jugendpsychotherapeut zu tun

Ja, denn genau dieser Punkt kann am leichtesten geändert werden. Alle Wissenschaftler und alle PsychotherapeutInnen wissen, dass zwischen 8 und 18 Monaten ein Kind versucht, eine sichere Bindung zu seinen Eltern aufzubauen. In dieser Zeit darf nicht einfach einer der beiden Elternteile wegfallen. Beide müssen in dieser Zeit präsent sein und sich als Bindungsobjekt zur Verfügung stellen. Idealerweise ist die Mutter den ganzen Tag da, der Vater kommt dazu. Und die nächsten 18 Monate könnte der Vater zuhause bleiben und die Mutter geht zur Arbeit – oder eine andere Variante, die verhindert, dass das Kind in Fremdbetreuung kommt. Aber auch die Hälfte der Erwachsenen, die zur Psychotherapie kommen, leiden unter einer unsicheren Bindung, die auf diese Zeitspanne zurückzuführen ist.

 

Weshalb sehen Sie jetzt Handlungsbedarf ?

Die Bindungsforschung und die psychotherapeutischen Langzeit-Erfahrungen verlangen, dass Experten nicht länger schweigen. Auch wenn sie sich bei leistungsorientierten Frauen, die sich so sehr mit ihrem Beruf identifizieren, dass kaum mehr Sinn für Mutterschaft übrig bleibt, höchst unbeliebt machen.

 

„Im Fokus der Diskussion um die Qualität von Kitas stehen die Kinder und ihre Mütter“, heißt es in Ihrem Buch. Nach den ErzieherInnen frage niemand.

Es gab eine Umfrage, für die wir 1000 bayerische Kinderkrippen angeschrieben haben. Die Stadt München als größter Träger hat ihren ErzieherInnen nicht erlaubt, mitzumachen. Deshalb haben wir nur knapp 300 Antworten bekommen. Es gibt zwar inzwischen eine Studie, die über zweitausend Krippenmitarbeiter befragen konnte und katastrophale Verhältnisse festgestellt hat, aber wir haben sehr wichtige zusätzliche Fragen gestellt, die weit mehr Missstände an den Tag gebracht hat.

 

Gibt es noch etwas, das Sie unseren Lesern sagen möchten?

Wer in finanzieller Not ist, darf sich kein schlechtes Gewissen machen lassen. Es ist wie beim Essen, erstmal muss man überhaupt was zum Essen kriegen, um zu überleben. Nur wer reichlich zu essen hat, kann sich den Luxus leisten, gesund zu essen.

Wir sprechen deshalb auch nicht diejenigen an, die gar keine Wahl haben, die ihr Kind einfach in die Kinderkrippe geben müssen – bitte nicht zur Kinderkrippe Kita sagen, denn das ist ein verharmlosender süßer Begriff. Kita ist nämlich der Überbegriff über Kinderkrippe und Kindergarten und man weiß dann nicht, wo das Kind eigentlich gelandet ist.

Uns geht es um diejenigen, die beruflich erfolgreich sind, Karriere machen, gut verdienen und wirklich Entscheidungsfreiheit haben. Wir würden uns wünschen, dass sie wissen, was sie tun, wenn sie ihr Kind nicht gerade an der Garderobe aber in der Kleinkind-Verwahrung abgeben. Und wir würden uns wünschen, dass sie es sich nicht zu einfach machen und zu schnell den für ihre Identität krisenhaften Moment des Wahrnehmens von Mütterlichkeit bzw. Vatersein überspringen, um dann unempathisch das Kind abzugeben.

Wir wissen natürlich, dass diese Mütter ohne Mütterlichkeit eher selten sind und die meisten sich mit dem Konflikt und den Schuldgefühlen schwer tun, aber sie lassen sich dann doch auf die unempathische Seite ziehen, weil sie es sonst nicht aushalten würden.

Aber ich möchte darauf hinweisen, dass es nicht nur um die Kinderkrippe geht, sondern dass es um die Identität der modernen Frau geht, die sich mit ihrem Beruf identifiziert und die durch die Mutterschaft droht in eine Identitätskrise zu geraten, wenn sie sich nicht schnell genug für die Kinderkrippe entscheidet.

Die junge akademisch gebildete berufstätige Frau von heute:

Was sie nicht will:

  • So werden und leben wie die Mütter – Heimchen am Herd mit wenig Achtung und Selbstachtung.

Was sie will:

  • Gleichberechtigung, ihren Begabungen und Neigungen gemäß ihr Leben gestalten,
  • einen Beruf haben, mit dem sie sich identifizieren kann
  • Lebensreichtum durch Engagement, Interessen, Reisen, Hobbys, Sport, Freunde, Partnerschaft

Doch dann kommt das Thema des eigenen Kindes.

Der Kinderwunsch wächst – implizit teils unbestimmt und unbewusst oder explizit mit Träumen schöner Mutterschaft?

Sich freuen auf das Kind.

Schwangerschaft. Oh, wie soll das alles gehen? Wo bleibt mein Beruf und woher kommt das Geld?

Ich will meinen Beruf nicht opfern. Ich will nicht aus meiner Berufslaufbahn rausfliegen.

Wie lange muss ich denn daheim bleiben? Reichen 8 Monate oder muss es ein Jahr sein oder gar zwei?

Hier offenbart sich, dass die Mutterschaft zum Identitätskonflikt wird (neben dem Geld). Die bisherige Identität als Frau hat das Muttersein nicht enthalten und es ist schwierig, es mit der bisherigen (hauptsächlich beruflichen) Identität in Einklang zu bringen.

Die Mutterschaft sollte also die bisherige Identität möglichst wenig ins Wanken bringen, ihr den ganz großen Raum im Selbstgefühl lassen. Nicht halb Mutter, halb Beruf, das ist zu viel Verlust. Mindestens 75 % Beruf, so viel Verzicht geht.

Und was heißt das praktisch? Naja, ein Jahr zuhause, dann kommt das Kind in die Krippe.

Oder kann der Konflikt auch anders angegangen werden?

Es geht ja ab der Geburt nicht mehr nur um meine Identität (vom Vater wollen wir noch gar nicht reden). Es geht um einen Menschen, der in mein Leben getreten ist, der die gleichen Rechte und gleich viel Bedürfnisse und Wünsche hat wie ich.

Dessen Bedürfnis es nicht ist, bis zum Kindergartenalter an außerfamiliär untergebracht zu werden unter Umständen, die ihm nicht nur nicht gerecht werden, sondern die ihm erheblichen Schaden zufügen.

Ist das Schwarzmalerei oder könnte ich anfangen, mein Kind wirklich wahrzunehmen statt es mit meinen Erwachsenen-Projektionen auszustatten, mich in mein Kind hineinzuversetzen – wie es sich und die Welt erlebt, Mitgefühl mit ihm zu haben, was es fühlt, braucht, fürchtet, stresst, was ihm wirklich schadet und was ihm zugemutet werden kann.

Die wundervolle Erlebens-Welt des Kindes zu betreten, sie mit ihm zu erleben, auszutauschen als etwas, was nur kurze Zeit währt, danach unwiederbringlich verloren ist.

Dagegen wiederholt sich die Berufswelt viel zu oft, jahrzehntelang. Nur einmal in meinem Leben ein oder zweidutzend Monate lang das Kleinkind in seiner Entwicklung erleben zu dürfen ist ein so kostbares Geschenk.

Nach 18 Monaten oder 2 Jahren mit diesem Reichtum wieder in den Beruf zurückzugehen als eine andere Frau, eine durchaus stärkere Frau, die im Konflikt des ‚Entweder Beruf oder Mutter Seins‘ nicht ihre alte Identität als Berufstätige verteidigen musste, sondern die den Mut aufbrachte, die Krise zu nutzen für die Entstehung einer neuen viel reicheren Identität, die getragen wird durch das reifere ‚UND‘: berufstätige Frau UND Mutter. Eine Mutter, die ihren Beruf nicht geopfert hat und eine Berufstätige, die Ihre Mutterschaft nicht minimieren musste.

Nur das ist wirkliche Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft. Was dagegen allgemein als Vereinbarkeit bezeichnet wird, ist das Beibehalten der viel ärmeren Identität als berufstätige Frau mit Hilfe eines ‚Nebenhers‘ von Mutterschaft durch morgendliche Abgabe des Kindes in der Krippe.

 

Wir danken Ihnen für die Zeit, die Sie sich genommen haben und schätzen die Aufklärung von Experten-Seite!

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