Ein Fachbuch liest man selten von vorne bis hinten Zeile für Zeile durch. Meist pickt man sich doch die Themen aus dem Inhaltsverzeichnis raus, die man interessant findet. In diesem Falle habe ich noch viel vor. 😉

Für den ersten Überblick schlug ich das Buch „Schadet die Kinderkrippe meinem Kind?“ von Prof. Dr. Serge K.D. Sulz (u.a.) auf. Eine Menge Experten zu verschiedenen Themen rund um das Überthema „Kinderkrippe“. Das ist schon mal gut. Auf Seite eins des Inhaltsverzeichnisses recht weit unten stach mir ein Kapitel besonders ins Auge. Es trägt den Titel:

„Ich als Kinderkrippen-Kind – ein Tatsachenbericht eines eineinhalbjährigen Kindes könnte so aussehen“

Zum Verständnis: Das Kind ist zu Beginn der Geschichte 10 Monate alt und hat am Ende schon einige Erfahrung in der Kinderkrippe sammeln können, die in Worte gefasst dargestellt wird.

Direkt die ersten Zeilen animierten mich dazu, weiterlesen zu wollen:

„Ich bin es ja gewohnt, meine Mama mit ihrem Handy teilen zu müssen. Wenn sie joggt – mich im großrädrigen Buggy vor sich herschiebend – schaut sie mindestens so viel in das Handy wie auf den Weg.“ […]

Ach herrje, ja, das Handy. Ich bin da nicht besser als viele andere Mütter. Leider. Nur mal eben schnell… und dann bleibt man bei Facebook in der Timeline hängen. Wie das aussieht, darüber habe ich gerade neulich ein Video gesehen, bei dem die Mutter auf das Display ihres Handys schaut, darauf herumtippt und für alles, was um sie herum passiert keinerlei Wahrnehmung mehr übrig hat. Zum Leidwesen ihrer kleinen Tochter, die gefühlte zehn Minuten in der Dauerschleife „Mama, Mama, Mama, Mama“ sagt, und irgendwann, da sie einfach nicht gehört wird, anfängt zu weinen. Mich hat das geschockt. Da sieht man mal, wie schlimm das aus Sicht eines Kindes wahrgenommen wird, wenn man in eine (andere) Sache vertieft ist…

Nachdem ich das Kapitel durchgearbeitet hatte, las ich es direkt meiner Mutter (und später am Abend meinem Mann) vor, so begeistert war ich. Für mich ist es auf den Punkt gebracht. Endlich mal aus Sicht eines Kindes geschrieben! Wie fühlt ein 10 Monate altes Kind? Was geht in ihm vor? Was braucht es? Was braucht es sicher nicht? Welche Bedürfnisse hat es?

Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Sulz darf ich das Kapitel folgend auf meinem Blog veröffentlichen. Teilt es bitte, egal wo, damit die Sicht und der Fokus wieder mehr auf unsere Kinder gelenkt wird, und nicht so sehr auf uns Erwachsenen haften bleibt.

Nicht die Kinder müssen sich uns anpassen, sondern wir müssen uns den Kindern wieder mehr anpassen!

Also, los geht´s:

„Ich bin es ja gewohnt, meine Mama mit ihrem Handy teilen zu müssen. Wenn sie joggt – mich im großrädrigen Buggy vor sich herschiebend – schaut sie mindestens so viel in das Handy wie auf den Weg. Mich wird sie später beim Wickeln wieder anschauen. Aber manchmal bin ich eifersüchtig, wenn sie mit dem Handy herzhafter lacht und unbekümmerter ist als mit mir. Ich habe ja auch ein schönes Spielzeug, das mir viel Freude bereitet, aber da kommt halt keine lachende Stimme raus. Ich muss zugeben, dass das Stillen ja ein supertoller Luxus ist – ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, genau das was ich immer wieder brauche und genieße. Jetzt will sie aber abstillen, damit ich in der Kinderkrippe keine Scherereien mache. Windelfrei kriegt sie mich aber nicht so schnell. Das kann ich einfach noch nicht. Ich würde ihr ja gern helfen, aber eh ich mich versehe, ist die Kacke in der Windel. Ich liebe meine Mama und freue mich immer riesig, wenn sie mich anschaut. Dann lächle ich und dann strahle ich im ganzen Gesicht und das ist auch sehr schön für sie. Da gelingt es mir immer wieder Kummerfalten aus ihrem Gesicht zu vertreiben oder ihren Stress etwas kleiner zu machen. Aber leider ist sie eine totale Anfängerin als Mutter. Bis sie mal kapiert hat, was ich brauche! Und ich brauche ja in jedem Moment wieder etwas anderes. Allerdings zeige ich das deutlich – sie versteht es halt oft nicht. Sie meint ich habe Hunger, wenn ich Bauchweh habe oder sie meint, ich sei müde, wenn ich endlich wieder Bewegung haben will und umgekehrt. Sie versteht auch nicht, dass in mir so ein System drin ist, das sich Bindungssystem nennt und das mich dazu bringt, dafür zu sorgen, dass sie genau so zuverlässig und dauerhaft für mich da ist, wie ich es brauche, bis ich mindestens zwei Jahre alt bin. Dieses System ist von Geburt an, nein vom Erbe her, in mir eingebaut – ganz ähnlich wie der Blutkreislauf oder das Atemsystem oder das Verdauungssystem. Im ersten Lebensjahr bin ich da noch sehr empfindlich, halte keine 30 Minuten alleine aus, es sei denn ich schlafe oder spiele. Und das wird sich auch im zweiten Lebensjahr nicht sehr ändern. Auch da ist es Stress, wenn Mama länger als eine Stunde weg ist. Vater, Oma, Tante, großer Bruder können mich schon ablenken. Aber es gibt nur einen Menschen, den ich in dieser Zeit wirklich brauche – das ist meine Mama. Also leicht hat man es mit so einer Anfänger-Mama wirklich nicht. Aber zu zweit kriegen wir das dann doch immer ganz gut hin und ich bin recht zufrieden mit ihr.

Wenn ich in die Kinderkrippe komme, wird meine Mama ja den ganzen Tag mit ganz kurzen Pausen bei mir in der Krippe bleiben. Das ist doch klar! Das kann doch kein normales Kind anders sehen! Sie würde mir ja auch nicht die Luft zum Atmen länger wegnehmen als ich es aushalte. Oder die Temperatur stundenlang so niedrig halten, dass ich krank werde. Oder mir stundenlang nichts zum Essen und Trinken geben. Denn sie weiß, was Kinder brauchen.

Zehn Monate lang war mein Leben schön und unbeschwert. Ich fühlte mich sicher und geborgen. Ich hatte viel Körperkontakt mit Mama. Das Stillen war einfach phantastisch. Sie ging gleich auf mich ein, wenn ich in Stress kam und sie beruhigte mich so gut. Nach zehn Monaten Mutter-Erfahrung ist sie eine tolle Mama geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass es ihr mit mir zu langweilig ist.

Aber sie wollte nicht mehr länger ganz ohne ihren Beruf sein und hatte mich ohne mich zu fragen  – das wäre ja auch nicht möglich gewesen – schon vor meiner Geburt in der Kinderkrippe angemeldet. Naja, ich dachte mir nichts Ungutes dabei. Denn weggehen von der Krippe ohne mich – das tut sie doch sicher nicht! Eigentlich wollte sie nur halbtags Kinderkrippe, aber es hieß entweder ganztags oder gar kein Krippenplatz. Da kam ich also mit ihr in die Krippe. Zehn Kinder waren schon da – für meine Ohren ein betäubender Lärm, der nicht aufhören wollte. STRESS! Fremde Menschen kamen auf mich zu und nahmen mich auf den Arm, ohne mich zu fragen, ob ich das will. Ich schrie, bis sie mich wieder der Mama zurückgaben. STRESS! An eine Erzieherin habe ich mich nach zwei Wochen allmählich gewöhnt. Es machte mir nichts mehr aus, wenn meine Mama ein bisschen weg von mir saß und sie mich auf den Arm nahm oder mit mir spielte. Aber ein Tag später war sie im Urlaub und eine neue kam, die ich gar nicht kannte. STRESS! Und dann ging Mama aus dem Raum. Ich wusste nicht wohin und wie lange. STRESS! Die neue Erzieherin nahm mich auf den Arm. Das war noch schlimmer als allein am Boden zu sitzen. Doppelter STRESS! Ich weinte und schrie. STRESS! Dann ging mir einfach die Puste und die Kraft aus und ich wurde still. Die Erzieherin sagte: „Jetzt hat er sich beruhigt.“ Aber das stimmte nicht. Ich fühlte mich elend. STRESS! Mama kam dann und hat mich gerettet. Am nächsten Tag wieder das Gleiche. STRESS! Und am übernächsten Tag wieder das Gleiche. STRESS! Irgendwann sagten sie meiner Mama, sie könne jetzt gleich nach Hause gehen. Ich sei jetzt eingewöhnt. STRESS! Und sie hat es tatsächlich getan. STRESS! Jetzt hörte der STRESS nicht mehr auf. Er hielt den ganzen Tag an. STRESS! Ich konnte natürlich noch nicht sprechen. STRESS! Und mein Weinen und mein Aufhören zu weinen verstand niemand wirklich. STRESS! Und ich war nicht das einzige Kind, das weinte. STRESS! Da weinten mindestens fünf gleichzeitig. STRESS! Es war die Hölle. STRESS! Ich hatte keine Mama mehr. STRESS! Sie war weg. STRESS! Es gab sie nicht mehr. STRESS! Wieder hörte ich irgendwann auf zu weinen STRESS! Ich hatte keine Tränen mehr. STRESS! Erwachsene können sich nicht vorstellen, dass für so ein kleines Kind, wie ich es war und bin, eine Stunde unerträglich lang ist – einfach die Hölle. STRESS! Und dass zwei Stunden die doppelte Hölle sind. STRESS! Und dass drei Stunden die dreifache Hölle sind. STRESS! Und dass vier Stunden die vierfache Hölle sind. STRESS! Und dass fünf Stunden die fünffache Hölle sind! STRESS! Und das sechs Stunden die sechsfache Hölle sind. STRESS! Und das sieben Stunden die siebenfache Hölle sind. STRESS! Und das acht Stunden die achtfache Hölle sind. STRESS! Und wenn Mama einen Ganztagsjob hat, werden es neun Stunden, also die neunfache Hölle. STRESS! Und weil sie ja nicht immer gleich weg kann, werden es halt auch manchmal zehn Stunden. Die zehnfache Hölle. STRESS!

Meine Mama ist den ganzen Tag in der Arbeit, im Beruf. Ich versuche das zu verstehen. Vielleicht ist Arbeit und Beruf eine Krippe für Erwachsene, eine Erwachsenenkrippe. Aber dass sie freiwillig in eine Krippe will, verstehe ich nicht. Sie kommt ja abends fast immer gestresst in meine Krippe, um mich abzuholen. Wenn sie dort aber so viel STRESS hat wie ich hier in meiner Krippe, würde sie das nie freiwillig tun. Also muss sie in die Erwachsenenkrippe so wie ich in die Kinderkrippe muss. Und dann ist es ja kein Wunder, dass wir uns abends noch gegenseitig stressen. Den Erzieherinnen kann ich meinen STRESS nicht mehr zeigen, nur noch meiner Mama. Sie denkt dann, dass sie mit mir nicht streng genug ist, wenn ich zuhause so ungenießbar bin und in der Krippe so brav. Immer nur Missverständnisse! Ich bin halt nicht ein kleiner Erwachsener, der nur größer gemacht werden muss – durch Erziehung und Bildung. Das funktioniert erst im Kindergarten, dann sehr gern. Aber was ich jetzt brauche, ist halt so ganz anders, dass die Kinderkrippe es mir nicht geben kann. Sie kann mir nur etwas nehmen. Viel zu viel nehmen. Mehr als ich verkraften kann. Wenn ich doch nur sprechen könnte!

Dass ich da manchmal und immer öfter ganz still sitze, ist nicht Ruhe und Beruhigung. Das ist Erschöpfung und Resignation. Selbst wenn ich spiele, ist der STRESS in mir, angespannt, erregt. Man merkt mir das  halt nicht an. Andere Kinder hören nicht auf mit dem Schreien, bis jemand zu ihnen kommt. Wieder andere können trotz dem STRESS lächeln und Sonnenschein sein. Zu denen kommt auch oft jemand. Sie werden oft auf den Arm genommen. Ja und ein Mädchen wird von niemandem gesehen, zu ihm kommt den ganzen Tag niemand. Es gibt auch Kinder, die sobald sie gehen können, zu irgend einer Erzieherin hingehen und sich von der auf den Arm nehmen lassen, egal wer es ist. Von den neun Stunden, die die meisten von uns in der Krippe sind, kriegen wir ja eine halbe Stunde eine Erzieherin ganz für uns allein. Dreißig Minuten! Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein. Mit der Zeit ist das so eine Sache. Eine Stunde ist unendlich lang. Bei uns zählen Minuten. Ich bin also am Tag achteinhalb Stunden, also 510 Minuten allein (das sind über dreißigtausend Sekunden), ohne dass ich meine Mama oder meine oder irgendeine Erzieherin für mich habe. Erwachsene können sich das nicht vorstellen, wie das für ein so kleines Kind ist.

Mittendrin werde ich gepackt und auf den Wickeltisch gelegt. Das macht die Praktikantin, die ich natürlich auch nicht kenne. STRESS! Ob ich nun Hunger oder Durst habe oder nicht, immer wieder wird mir das Fläschchen in den Mund gesteckt. STRESS! Wenn ich müde bin, passt das Schlafen nicht rein. STRESS! Wenn ich nicht müde bin, muss ich schlafen. STRESS! Wenn ich zu lange weine, heißt es: „Hör jetzt mal auf. Du hast genug geweint.“ STRESS! Ich kann mich nicht wehren. Das ist nicht meine Art. STRESS! Manche Kinder werden aggressiv und schlagen andere Kinder. STRESS! Ich bin da eher pflegeleicht und lasse mit mir machen, was Erzieherinnen machen. STRESS! Ich halte still. STRESS! Und bin still. STRESS! Und versuche zu lächeln. STRESS! Und spiele trotzdem. STRESS! Erst beim Abholen überkommt es mich. STRESS! Ich bin so verzweifelt. STRESS! Und traurig. STRESS! Und wütend auf Mama. STRESS! Und zugleich bin ich so froh, dass sie wieder da ist. STRESS! Ich kann mich den ganzen Abend nicht beruhigen, wie auch immer Mama sich bemüht. STRESS! Wie soll ich da die ganze Nacht schlafen können? STRESS! Die Nacht ist zu kurz, um ganz zur Ruhe zu kommen. STRESS! Und dann bringt mich Mama tatsächlich wieder dorthin. STRESS! Und am nächsten Tag wieder. STRESS! Und die ganze Woche. STRESS! Und den ganzen Monat. STRESS! Und das ganze Jahr. STRESS! Innerlich bin ich ein Nervenbündel. STRESS! Nach außen lasse ich mir immer weniger anmerken. STRESS! Ich weiß nicht, ob Mama merkt, dass ich vor Krippenbeginn ein ganz anderes Kind war. STRESS! Mir wird täglich Gewalt angetan. STRESS! Ich will das nicht. STRESS! Und ich habe aufgehört mich zu wehren. STRESS! Das Beste ist, wenn ich es mir gefallen lasse und so bin, wie Mama und die Erzieherin mich haben wollen. Damit geht es mir besser, aber es ist immer noch STRESS!

Wenn ich mich mit anderen Krippenkindern unterhalte – ohne dass wir bereits sprechen können –, höre ich immer wieder: Mir geht es auch so, so ein STRESS – mir geht es auch so, so ein STRESS – und mir auch, so ein STRESS. Ich werde immer kleinlauter, immer stiller und vielleicht verstumme ich eines Tages ganz. Können oder wollen die Erwachsenen sich nicht in uns Kinder hineinversetzen? Wir müssen da so viel Erwachsenen-Verstand oder besser so viel Erwachsenen-Dummheit anhören wie: „Das schreit ja nur, um seinen Willen durchzusetzen“, „Die müssen lernen, dass sie nicht alles gleich haben können“ und „Die sollen mit den anderen Kindern spielen und Erwachsenen gegenüber nicht so anhänglich sein, es sind ja genügend Kinder da.“ Das alles nur, um mit uns kein Mitgefühl haben zu müssen. Was die mit Erziehung meinen, verstehen wir noch nicht. Und Bildung ist auch noch nicht dran. Wir brauchen Beziehung und die findet nicht statt, wenn wir in die Krippe gesteckt werden. Die findet nicht statt, wenn eine Erzieherin nach fünf Monaten in eine andere Abteilung wechselt, gerade nachdem sie Ersatzmutter geworden ist. Dass wir in den ersten zwei Lebensjahren noch keine gleichaltrigen oder kleineren Kinder zum Spielen brauchen, glaubt uns ja sowieso kein Erwachsener: „So schön, dass Du so viele Kinder hast!“ Ich habe ja nichts gegen andere Kinder. Aber es schreit und weint dauernd irgendeines und das ist großer Stress – den ganzen Tag. Das kann sich ein Erwachsener nicht vorstellen. Wir spielen ja auch nicht wirklich miteinander. Das können wir noch gar nicht. Und deshalb ist die Kinderkrippe nichts als STRESS.

 

Bestellt werden kann das Buch hier (Klick).

Linkempfehlungen zu bindungsorientierten Blogartikeln: 

Wir benutzen Cookies um die Nutzerfreundlichkeit der Webseite zu verbessen. Durch Deinen Besuch stimmst Du dem zu.