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Bedürfnisorientiert für alle Beteiligten?
„Nein, Mama, das geht für mich überhaupt nicht! Ich will JETZT spielen! Und zwar MIT! DIR!“
Die Augen meines Vierjährigen giften mich an. Man möchte meinen, er wünsche sich, ich falle tot um.
Gerade jetzt wünsche ich mir das auch. Dann müsste ich nicht schon wieder einen dieser Wutanfälle meines Sohnes aushalten.
Wir sitzen beim Mittagessen. Meine Mutter ist da, wir unterhalten uns. Emil ist langweilig bei unseren Erwachsenen-Gesprächen. Er steht auf, schlendert ein wenig durchs Zimmer. Vermutlich sucht er etwas zu spielen. Offensichtlich sieht er den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, denn es mangelt ihm wirklich nicht an Spielzeug.
Als er merkt, dass er alleine nicht weiterkommt, fängt er an: In einer Dauerschleife in zunächst normaler Lautstärke bis hin zu deutlichen lauten Worten wird meine Aufmerksamkeit, nein, meine Anwesenheit eingefordert.
Und mal wieder treffen mehrere Bedürfnisse aufeinander:
- Die meines Sohnes, der möchte, dass ich jetzt SOFORT vom Tisch aufstehe und mich ihm zuwende,
- meine eigenen Bedürfnisse nach einem schönen Gespräch mit meiner lieben Mama und noch warmem Essen,
- und auch meine Mutter hatte das Bedürfnis mit mir zu sprechen und in Ruhe zu essen.
Sei Pipi, nicht Annika!
Klar.
Bis Du eine kleine Pipi zu Hause hast, die zu Dir sagt: „Ich schlage dich mit dem Hammer und mach´ dich zu Mus“. (-> Hörbuch Pipi Langstrumpf)
Dann schaust du nur mit großen Augen und wünschst dir, du hättest doch gerade Annika vor dir stehen.
Bedürfnisorientiert.
So einfach – so schwer.
Ich stehe dahinter, meinen Sohn bedürfnisorientiert ins Leben zu begleiten. Ohne Wenn und Aber.
Na gut, doch ein „Aber“:
Wenn er sich in Emil Hyde verwandelt gerate ich manchmal an meine Grenzen oder ins Wanken, ob dieser Weg der Richtige (für uns / für ihn / für mich) ist. Je nachdem, wie es mir selbst gerade geht.
„Man bleibt am Tisch sitzen, bis alle fertig sind“, höre ich mein erziehendes Ich sagen.
Und was, wenn er jetzt doch aufsteht?
Gibt’s dann „Konsequenzen“?
Manchmal ja.
Aber ehrlich gesagt ist das doch ziemlich bescheuert.
Und grundsätzlich: Wer sagt denn, dass mein Weg der einzig Richtige ist? Vielleicht ist für dieses Kind ein anderer Weg zielführender?
Ein Geschwisterchen stellt die Welt auf den Kopf
Seit unser zweiter Sohn auf der Welt ist, ist alles anders. Vorher waren wir ein Team.
1:1-Betreuung halt. Noch bevor mein Sohn etwas gedacht hat, hatte ich es schon in seinen Augen erkannt.
Das ist heute anders. Da sind zwei kleine Wesen, die lautstark auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen und diese einfordern. Und ich mitten drin.
Meine Geduld und meine Nerven liegen viel öfter blank als früher, als ich nur ein Kind zu betreuen hatte.
Ich glaube an das Spiegelgesetz, ja. Dazu habe ich auch schon was geschrieben. Damals ging es aber nicht um Wut, die durch mein Kind gespiegelt wurde, sondern um Schüchternheit. Damit konnte ich irgendwie besser umgehen als mit der Wut, die sich jetzt ausdrückt. 😉
„Er tanzt dir auf der Nase rum“, „das wird immer schlimmer werden“, „du musst etwas tun, das geht doch so nicht weiter“…
Kennst Du diese fachmännischen Aussagen dritter?
Die dich – so wie mich – ins Wanken geraten lassen?
Dieser Blogartikel ist auch ein wenig mir selbst gewidmet, denn ich brauche dringend Argumente, warum ich weiterhin diesen Weg der Bedürfnisorientierung gehen möchte und nicht in Erziehung verfalle.
„Hat´s dir geschadet“? 😀
Hm. Kurz nachgedacht…
JA!
Wunsch oder Bedürfnis
Auf die Bedürfnisse meiner Kinder adäquat einzugehen halte ich für wichtig. Das heißt nicht, dass sie jeden Wunsch erfüllt bekommen. Beziehungsweise unterscheide ich zwischen Wunsch und Bedürfnis.
Wenn mein Sohn (4) mich bittet, ihn zu tragen, oder auf den Arm zu nehmen, braucht er meine Nähe. Warum auch immer. Dieses Bedürfnis gehört erfüllt.
Das bedeutet nicht, dass ich alles stehen und liegen lasse, aber ich begegne diesem Wunsch mit Respekt und komme ihm nach.
Schreit mein Sohn herum, weil er JETZT GLEICH etwas haben MUSS, versuche ich vor allem, selbst die Ruhe zu bewahren. Wem bringt es etwas, wenn ich jetzt auch noch losschreie?!
Ehrlicherweise gelingt mir das nicht immer gut. Vor allem seit unser Baby auf der Welt ist.
Drohen und Strafen
Es fällt mir so viel leichter, die Bedürfnisse eines Babys wahrzunehmen und zu erfüllen, als die eines Kleinkindes.
Hier geht es plötzlich um so viel mehr: Um „Benehmen“, um „Frech sein“, um Wutthemen, um Rücksicht und leise sein, um Frust und Aggressionen, um Gefühle, die diesen kleinen Jungen übermannen und ihn selbst total aus der Bahn werfen.
Es wird viel mehr gewertet und beurteilt in diesem Alter, ob diese Gefühle nun gerade „angebracht“ sind oder nicht. Und wenn wir meinen, sie sind gerade zu heftig oder unangebracht, beginnen wir zu erziehen.
Was also macht Mama, wenn sie selbst nicht in der Lage ist, diesen Themen bedürfnisorientiert zu begegnen? Ja, genau, sie droht und straft.
„Wenn Du jetzt nicht…. dann…“
Sowas Dummes!
Aber, oh nein, es funktioniert doch sooooo gut. 🙁
Leider.
Tatsächlich aber kommen wir, zumindest auf lange Sicht gesehen, mit Einfühlungsvermögen und Zuhören deutlich weiter.
Dann hat unser Kind nämlich Vertrauen zu uns und die Bindung wird gestärkt.
Mein Kind darf seine Gefühle ausdrücken
Mein Sohn hat einen starken (Eigen-)Willen. Vermutlich auch, weil ich nicht schon früh seinen Willen gebrochen habe. In unserer Gesellschaft würde man ihn als „Tyrann“ bezeichnen und in die entsprechende Schublade stecken.
Aber ist das wirklich schlimm?
Ein Kind, das schon früh lernt, welche Gefühle es hat und diese ausdrückt?
Ja, ausdrücken darf?
Welches Kind darf denn das heute noch? Die Kinder müssen angepasst sein, schon früh in die Gesellschaft passen. Und die fordert, dass Kinder leise sind, höflich, freundlich und hilfsbereit.
Es ist total wichtig, Gefühle ausleben zu dürfen. Sonst entsteht ein „Gefühlsstau“, wie Dr. Hans-Joachim Maaz in seinem gleichnamigen Buch erklärt.
Wichtig: Unsere Kinder tun dies nicht, um uns das Leben schwer zu machen. Das muss man sich immer wieder vor Augen halten!
Sie sind einfach überfordert mit all den Gefühlen, die auf sie einprasseln. Damit umzugehen lernen sie gerade erst. Schreien wir jetzt oder sperren sie weg, alleine in einem Zimmer, bekommen sie Angst.
Stattdessen liebevolle Annahme, die „Große“ sein, dem Kind unterstützend zur Seite stehen, es auffangen. Und im Nachgang noch einmal über die Gefühle sprechen, wenn das Kind ein Gespräch darüber zulässt.
Wir sind auch nicht perfekt – Wer ist das schon?!
Ich weiß aus eigener Erfahrung sehr wohl, dass es nicht immer leicht ist, ruhig neben einem außer sich vor Wut schreienden Kind zu sitzen und zu warten, bis der Sturm vorübergezogen ist.
Manchmal kann man einfach nicht mehr. Das darf auch sein. Wir sind alle nicht perfekt. Und gerade ein schreiendes, tobendes Kind kann uns enorm Triggern.
Es geht darum, unser Verhalten zu hinterfragen, zu beleuchten, zu schauen, wo wir gegebenenfalls anders hätten reagieren können.
Nicht darum, immer alles richtig zu machen.
Reflektionen eines Vierjährigen
„Mama? … Es tut mir leid wegen gestern“, sagt mein Sohn kurz nach dem Augenöffnen am Morgen danach plötzlich zu mir.
„Mir auch, mein Liebling“, entgegne ich. „Manchmal kommen Gefühle über einen und man weiß nicht mehr ein noch aus. Ich kenne das zu gut.“
Wir schauen uns in die Augen.
Und wir sind wieder ein Team.
Wenn Du in meine „Bedürfnisorientiert ins Leben begleiten„-Gruppe bei Facebook kommen möchtest, bist Du wärmstens Willkommen! <3